Alle Essays ansehen

Gut Ding will Weile haben - Vom Faktor Zeit in der journalistischen Fotografie

Alles kommt zur rechten Zeit für den, der warten kann.

Der Fehler liegt in der Eile.
Eile ist des Teufels Bote.
Der Hastige überspringt seine Gelegenheiten.
Festina lente! Eile mit Weile.
Der Weise kennt keine Hast, und der Hastende ist nicht weise.
Wer schnell geht, bekommt die Antilope nicht zu Gesicht.

Von der Bantuweisheit bis zum Philosophenwort meinen all diese Sinnsprüche, die aus verschiedenen Kulturbereichen stammen und deren Liste man locker noch um einiges verlängern könnte, das Gleiche: Willst du etwas richtig gut machen, dann brauchst du dafür Zeit.

Natürlich gilt das auch für die Fotografie. Vielleicht sogar besonders. Denn Fotos sind komplexe Produkte, deren Qualität vom richtigen Aufeinandertreffen verschiedener Elemente abhängt: die perfekte Interaktion der Menschen im Bild oder der richtige Augenblick. Das Licht. Die Perspektive. Der Ausschnitt. All das vereinigt sich in einem guten Foto in perfekter Weise. Es bedarf keiner große Vorstellungskraft, um einzusehen, dass sich die gewünschte Verdichtung eines Motivs nicht zufällig in einem Sucher einstellt, sondern dass man dafür häufiger als gewünscht lange Zeit arbeiten und warten muss. Und um wie viel aufwendiger ist es noch, wenn man mehreren Fotos eine komplexe Geschichte fotografieren muss?

Um deren Bilder zu finden, bedarf es des zweiten Blicks. Wir Fotojournalisten müssen einfach genauer hinsehen, um das zu finden, was man gemeinhin nicht sieht, das, was hinter den Kulissen oder unter der Oberfläche liegt. Das ist umso wichtiger, je mehr man von der Auffassung gelenkt wird, dass dem Journalismus als vierte Macht im Lande eine wichtige Kontrollfunktion zukommt.

Das genaue Hinsehen ist aber nicht nur eine Frage von optischem Sehvermögen. Eine gute Brille allein hilft da wenig. Genaues Hinsehen ist auch eine Frage von Wissen und Suchen. Denn nur wer Wissen hat von dem, was er fotografieren will, der kann auch nach den geeigneten Situationen oder den richtigen Schauplätzen suchen. Die findet man selten nur einfach so im Vorbeigehen. Das gilt umso mehr, je komplexer ein Thema ist.

Es wird im Fotojournalismus oft und gern ein Satz Robert Capas zitiert, der leider meist falsch gedeutet wird. „Wenn dein Bild schlecht ist, dann warst Du nicht nah genug dran!“, meint natürlich nicht eine physische Nähe zum Motiv, sondern eine Affinität zum gewählten Gegenstand und ein fundiertes Wissen über die Vorgänge, basierend auf einer gründlichen Recherche, einem gewissen Einfühlungsvermögen gegenüber den Menschen sowie auf das starke Bedürfnis, anderen Menschen die Situation so wahrhaftig wie möglich zu vermitteln.

Gute Fotografen dürfen also nicht sein, was der bekannte Reporter, Buchautor und Kisch-Preisträger Andreas Altmann mal geringschätzig „Belichtungsbeamte“ nannte, die auf ihren Reportagereisen von dem Schauplatz ihrer Fotoserien selten mehr wüssten, als die Adresse des Hotels, in dem sie absteigen würden.

Natürlich gibt es solche Fotografen. Ich wäre ein Ignorant wenn ich nicht zugeben würde, dass es davon leider zu viele gibt.

Gute Fotografen dagegen müssen neugierig sein. Sie müssen wissen wollen. Sie müssen wie Schwämme sein, die alles interessiert aufsaugen, was ihnen zu ihrem Thema unter kommt. Sie müssen Fakten, Eindrücke und Motive sammeln. Sie müssen all das gesammelte einordnen und bewerten. Und wenn sie die Schlüsselmotive ihrer Reportagen oder Bildserien gefunden haben, dann erst kommt die eigentliche fotografische Arbeit. Dann erst müssen sie die Motive in eine Form bringen. Noch dazu in eine, in der sich Form und Inhalt des Bildes ergänzen und stützen. Eine Form, die den Inhalt adäquat transportiert, nicht abgehoben oder gar kontraproduktiv. Und sie müssen die Geschichte auserzählen, in eben jenen Fotos, die wir brauchen, um sie verstehen zu können.

All das ist eine zeitaufwendige Prozedur, die nur wenig zu tun hat mit dem locker aus der Hüfte gemachten Schnappschuss, den der Laie so gemeinhin im Kopf hat, wenn er an außergewöhnliche Bilder denkt. Und auch Bildern, die auf den ersten Blick so aussehen, als seien sie irgendwie zufällig oder nebenbei entstanden, ist meistens der zweite Blick vorausgegangen. Es ist selten der Zufall, der dem Fotografen die spannenden Situationen zuführt.

Leider räumen die Auftraggebern uns Fotografen heute nur noch selten die Zeit ein, die den Anforderungen an eine qualifizierte Arbeit Rechnung trägt. Getrieben von sparwütigen Betriebswirten haben die Bildredaktionen fast aller deutschen Magazine die Dauer der Assignments im letzten Jahrzehnt drastisch reduziert. Denn die Verlagsmanager richten sich lieber nach dem ersten Unternehmens-Gebot „Zeit ist Geld“, das auf den amerikanischen Politiker und Verleger Benjamin Franklin zurückgeht, statt nach einer der eingangs zitierten Bantu- oder Volksweisheiten. Selbst ein Magazin mit Vorzeige-Charakter, wie National Geographic, bleibt davon nicht verschont. Einst lag die normale Dauer eines Reportagejobs dort bei 6 Monaten, heute sind es nur noch etwa 4 Monate. Das klingt immer noch üppig – ist es auch – relativ gesehen ist es aber auch eine Kürzung um ein Drittel. Bei uns in Deutschland kann man selbst von der Dauer dieses gekürzten Assignments nur träumen. Nicht selten muss man auch eine umfassendere Reportage in 3-5 Tagen fotografieren. Was bei einem solchen „Quickie“ herauskommt, kann man sich an fünf Fingern abzählen: Der Fotograf muss Klischees abarbeiten, fotografisch und inhaltlich. Und er muss vieles inszenieren. Mit gutem Fotojournalismus oder Autorenfotografie hat das in der Regel nichts zu tun. Denn zum Finden originärer Bilder bleibt einfach nicht die Zeit.

Kurz nach dem Mauerfall hat der deutsche National-Geographic Fotograf Gerd Ludwig eine Reportage im Osten Deutschlands fotografiert. In dem kleinen Nest Kesselsdorf nahe Dresden entdeckte er am Wegesrand einen auf einer Wiese stehenden Schaukasten. Ein ehemaliger LKW-Fahrer hatte mit seiner Frau einen provisorischen Rastplatz für Autofahrer eingerichtet und in der Glasvitrine stellten sie Bananen, Orangen, Äpfel und einige Getränke zur Schau, die man dort als Reiseverpflegung kaufen konnte. Mehrere selbstgemalte Schilder weisen auf das provisorische Ergebniss ersten unternehmerischen Denkens hin. Gerd Ludwig wartete, bis eine ältere Frau den Weg daherkam, der mit einem Holzzaun vom Vorgarten des Rastplatzes getrennt war. Als sie sich nach dem Schaukasten umdrehte, löste er aus. Für ihn erzählte das Foto so viel über die Veränderung in der ehemaligen DDR, dass er noch zweimal an diesen Ort zurückkehrte, um das Bild vielleicht durch besseres Licht und eine stärker wirkende Person zu optimieren. Letztendlich war es denn doch das Foto vom ersten Besuch, das als Doppelseite in National Geographic gedruckt wurde. Bei anderen Gelegenheiten fotografierte Gerd Ludwig das optimale Bild jedoch erst beim zweiten, dritten oder gar vierten Aufenthalt vor Ort. Dieses Streben nach Perfektion und dem ultimativen Bild von einer als interessant eingeschätzten Situation kostet Zeit.

Viel davon muss man sich als Fotograf auch dafür nehmen, die Menschen in der Geschichte für sich zu gewinnen. Die Protagonisten, die Sachverständigen und jene Menschen, von deren Wohlwollen und Interesse man abhängig ist, um seine Bilder zu bekommen. Da darf man nicht fordernd und rücksichtslos auftreten, nicht wie ein Elefant im Porzellanladen durch seine Geschichte trampeln. Man muss vielmehr, um wieder eine Aussage von Andreas Altmann zu zitieren, der wie kaum ein anderer Reporter die Menschen für sein Anliegen zu begeistern vermag, wie ein Snake Charmer vorgehen: behutsam, einschmeichelnd, immer aufmerksam. Beim Schlangenbeschwörer kann Hektik und Hast tödlich sein, beim Fotografen kann sie das vorzeitige Ende der Geschichte bedeuten.

Für viele deutsche Magazine ist ein Zeitraum von einer Woche die Schmerzgrenze, die es nicht zu überziehen gilt. Eine Woche Arbeit für die Darstellung einer 14-Millionenstadt wie Kalkutta mit all ihren Aspekten und Problemen? Eine Woche Arbeit für eine Reisereportage über Zypern, wo man zum Überbrücken der großen Entfernungen den größten Teil seiner Zeit im Fahrzeug verbringt? Eine Woche Arbeit für die Darstellung von Arbeitslosigkeit im Osten unserer Republik, über deren Ursachen und Hintergründe selbst Berufspolitiker schon seit Jahren mit unterschiedlichen Auffassungen streiten?

Wie soll das funktionieren?

Die Antwort ist simpel: Es geht nur dann, wenn man an der Oberfläche bleibt, wenn man darauf verzichtet, der Fotografie jene Kraft zu entlocken, die diesem Medium inne wohnt. Wenn man sich leicht zugänglichen Klischees zuwendet, für die man nicht suchend und forschend das Thema entwickeln muss. Wenn man in den Fußstapfen anderer Fotografen wandelt und sich damit zufrieden gibt, deren Bilder nach zu fotografieren. Modifiziert und etwas besser, wenn man Glück hat. Eine Stadt oder eine Insel kann man im Schweinsgalopp nun mal nicht neu interpretieren, selbst der beste Fotograf kann das nicht. Das Resultat ist das ewige Wiederholen von Klischees, die Illustration. Es ist also nicht die Gier nach maßlosen Honoraren, die jene Fotografen treibt, die nach ausreichenden Zeiträumen verlangen, um einen guten Job zu machen. Angesichts der finanziellen Realität, die von seit Jahren stagnierenden Honorarsätzen bei gleichzeitig hohen Lebenshaltungskosten-Steigerungen und hohen Renditen der Verlags-Aktionäre bestimmt wird, erschiene mir ein solcher Argwohn auch lächerlich.

Es kommt nicht von ungefähr, das die herausragenden Leistungen in der Fotografie zumeist Arbeiten sind, an denen die Fotografen lange Zeit gearbeitet haben. Eines meiner Lieblingsbücher von Fotografen ist der Band „Mennoniten“ vom kanadischen Fotografen Larry Towell. Zehn Jahre lang hat er an seinem Buch über die alttestamentarisch lebende Religionsgemeinschaft der Mennoniten fotografiert und müsste ich auf einer einsamen Insel mit nur einem Fotobuch auskommen, ich würde dieses Buch wählen.

Beispiele für eine solche Arbeitsweise gibt es glücklicherweise immer noch genug. Da sind z.B. Sebastiao Salgados Werke „Worker“ und „Migrants“. Patrick Zachmanns Arbeiten zur chinesischen Diaspora und der Immigration. Abbas Bücher über den Islam und das Christentum. Kai Wiedenhöfers Arbeit über den Palästina-Konflikt, Martin Parrs Massentourismus und Fast Food Kultur oder Nan Goldins New Yorker Subkultur. Alle diese Fotografen vereint jenseits der unterschiedlichen Themen und fotografischen Auffassungen eines: Sie haben sich viel Zeit genommen. Ohne die wäre nur ein Schatten ihrer jetzigen Werke entstanden. 

 --------------------------------------------------------------------------------------------------

  •  

    Der Traum vom großen Bild - Warum es junge Fotografen in Kri…

    Es war der kürzeste Weg zum Erfolg. Etwa so erklärt der britische Fotograf Don McCullin in einem Gespräch mit dem ZEIT-Reporter Peter Sager seine Entscheidung, mit der Kamera in den Krieg zu ziehen: „Ich wollte auf die große Bühne, als Fotograf…