Die Straße als Bühne – Straßenfotografie
»Fotografieren heisst den Atem anhalten, wenn alle unsere Sinne danach streben, die flüchtige Wirklichkeit einzufangen«. Der Satz stammt von Henri Cartier-Bresson und er hat ihn auf die Fotografie allgemein gemünzt. Die Suche nach dem »magischen Moment«, wo aber ist sie bedeutsamer als in der Straßenfotografie?
Straßenfotografie, der Name sagt es schon, spielt sich auf der Straße ab. Aber nicht nur. Vielmehr ist damit der gesamte öffentliche Raum gemeint, für den die Straße lediglich ein Symbol darstellt. Straßenfotografie entsteht auch in halböffentlichen Räumen, wie Cafés, Kneipen und Läden.
Straßenfotografen betrachten die Straße, den öffentlichsten aller öffentlichen Räume, als ihre Bühne. Für sie spiegelt sich darauf das städtische Leben in all seinen Facetten wider. Dabei geht es nicht nur um den einen unwiederbringlichen Augenblick. Denn obwohl dieser Augenblick sich in der gleichen Form vermutlich nie wieder so ereignen wird, so soll die Straßenfotografie doch mehr als nur das augenblickliche Szenario widerspiegeln, sondern über diesen einmaligen Moment hinausweisen.
Eine gute Straßenfotografie zeigt in einer Art Grundsituation Menschen im urbanen Umfeld, deren Mimik, Gestik, Körpersprache oder Interaktion in der Beziehung zum städtischen Raum eine gewisse Allgemeingültigkeit ergeben, die über den eigentlichen, winzigen Moment der Aufnahme hinaus geht. Mensch und Raum stehen gestalterisch in einer Beziehung zueinander: aus einem Spannungsfeld zwischen Harmonie und Dissonanz ergibt sich die Grundsituation.
Die Themen, die auf der Bühne Straße gespielt werden, sind nie gestellt, geprobt oder geplant. Vorauszusehen oder erwartbar: ja, manchmal. Aber eigentlich müssen sie sich ergeben. Einfluss nehmen kann man nur auf jenen Ausschnitt Straße, den man sich als Bühne wählt. Wer dann aber die Bühne betritt, das hängt vom Zufall ab. Der Straßenfotograf ist somit eher ein Entdecker als ein Schöpfer. Er kreiert seine Motive nicht, er bringt sie vielmehr ans Licht und macht sie mit seinen Bildern öffentlich.
Die meisten Straßenfotografen machen sich bis zum Drücken des Auslösers so gut wie unsichtbar. Sie bestimmen daher auch nicht durch ihre (nicht sichtbare) Anwesenheit die Situation oder verändern sie dadurch. Erst das blitzschnelle Heben der Kamera und das Auslösegeräusch rückt sie in die Wahrnehmung ihrer Protagonisten. Aber dann ist die Szene zumeist schon im Kasten. Der Akt des Fotografierens, durch die vorgegebene Arbeitsweise ein äußerst schneller und manchmal gar hektischer Prozess, ist dagegen eine große schöpferische Leistung. Situation, Moment, Ausschnitt, Licht, Distanz – alles muss von dem Fotografen in rasend schneller Geschwindigkeit erfasst und zu einem Bild zusammengefügt werden.
Die Mode der Menschen, Plakate und Neonreklamen, die Architektur von Häusern, Bars, Geschäften und die Modelle der Autohersteller, in alldem bildeten die Straßenfotografen die Zeit ab, in der sie ihre Bilder schufen. Somit sind Straßenfotografien ein genaues Zeitbild urbanen Lebens. Dem Veränderungsprozess der Gesellschaft unterworfen ist Straßenfotografie niemals statisch und dank ihrer starken Authentizität immer auch dokumentarisch.
Entstanden ist sie nach dem starken Anwachsen der städtischen Metropolen in Amerika und Europa in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, aber die eigentliche Blütezeit der Straßenfotografie liegt etwa zwischen 1945 und 1970. Damit ist sie der jüngste Spross unter den vielen Genres der Fotografie. Zwar haben der Franzose Eugène Atget in Paris, der Ungar André Kertész in Budapest und der Zeichner Heinrich Zille in Berlin schon zuvor auf der Straße und in anderen öffentlichen Räumen fotografiert, aber es waren vor allem Fotografen der prosperierenden Nachkriegsära wie Robert Frank, Gary Winogrand, Lee Friedländer, William Klein, Helen Levitt und Saul Leiter, die Straßenfotografie als Genre bekannt machten. Zu ihren deutschen Konterparts gehören u.a. Walter Vogel, Klaus Lehnartz und Gabriele und Helmut Nothhelfer.
Auch die technischen Fortschritte in der Fototechnik beförderten die Straßenfotografie. Handlichere Kameras wie die Mittelformatkamera Rolleiflex (Markteinführung mit Beginn der 30er Jahre) und die kleine und unauffälligere Kleinbildkamera Leica (1924) mit ihren leisen Auslösegeräuschen machten das unbemerkte Agieren der Fotografen auf der Straße überhaupt erst möglich.
In den siebziger und achtziger Jahren wurde es etwas ruhiger um die Straßenfotografie. Aktuell erlebt sie, auch unter jüngeren Fotografen, eine Renaissance. Philipp-Lorca diCorcia ist damit ein Star der Kunstfotoszene geworden und auch die Fotos der Magnum-Größe Bruce Gilden hängen in zahlreichen Ausstellungen.
Aber Straßenfotografie ist heutzutage längst auch ein fotografisches Feld jenseits der hehren Museums- und Galeriefotografie geworden. Die Handykamera hat dazu geführt, dass überall und jederzeit fotografiert werden kann. Die massentouristische Eroberung der Welt geht einher mit der fotografischen. Unter dem vielen belanglosen Fotos, die damit geknipst werden, sind auch immer mal wieder interessante Bilder. Nicht selten sind diese Handybilder für junge Menschen der Anlass, sich stärker mit der Fotografie zu beschäftigen. Was liegt da näher, als es auf der Straße zu beginnen, wo scheinbar jeder frei und uneingeschränkt fotografieren kann, weil es hier ja kein Hausrecht gibt?
Und wie stellt sich das in der fotografischen Praxis dar? Einfach raus auf die Straße und los geht´s? Ganz so einfach ist es nicht. Die Straßenfotografie gehört tatsächlich zu den schwierigsten Themenfeldern in der Fotografie. Denn das spontane und direkte Fotografieren auf der Straße verlangt die Überwindung einer psychologischen Sperre. Schließlich rückt man den Menschen dabei auf recht distanzlose Weise mit der Kamera auf die Pelle und es wäre nur allzu verständlich, wenn sich die Fotografierten dadurch belästigt fühlten. Während man in anderen Motivfeldern Beziehungen zu den fotografierten Personen aufbauen und so deren Vertrauen und Zustimmung gewinnen kann, geht das bei der Straßenfotografie nicht. Hier kommt es vielmehr darauf an, das alltägliche Agieren von Menschen im urbanen Raum abzubilden. Man begegnet ihnen nur für einen kurzen Augenblick. Da ist spontanes und direktes Handeln notwendig. Ein vorhergehendes Fragen nach einer Fotoerlaubnis würde die ausgewählte Szene unwiederbringlich zunichte machen.
Auch gestalterisch und technisch ist die Straßenfotografie sehr anspruchsvoll. Die Notwendigkeit der schnellen Reaktion verlangt ein sicheres Gefühl für kommende Situationen. Blitzschnell muss man danach die Bildkomposition in den Griff bekommen und auch die Schärfe muss stimmen. Einige Fotografen suchen sich dafür oft zuerst den Hintergrund aus. Das kann ein Werbeplakat sein, oder ein ungewöhnliches Schaufenster, oder einfach nur eine quirlige Straßenkreuzung, in die ein Lichtstrahl fällt. Diese Hintergründe bilden ihr Bühnenbild.
Dann warten sie darauf, dass Menschen durch diese Kulisse laufen - die Schauspieler. Ungewöhnliche Figuren, originelle Handlungen und schrille Kleidung entscheiden dann darüber, warum eine Szene auswählt und die andere verworfen wird. Und gerade das Unvorhersehbare macht den Reiz daran aus. Nie weiß man vorher, was geschieht. Manchmal kehrt man nach einem Tag ohne ein einziges gelungenes Bild zurück, manchmal gelingt ein Super-Schnappschuß in den ersten zehn Minuten.
Straßenfotografen arbeiten zumeist mit kürzeren Brennweiten - einem leichten Weitwinkel oder einer Normalbrennweite. Damit muss man dicht an die Menschen herangehen und schafft so eine natürliche Nähe zum Motiv, die unserer menschlichen Sicht entspricht. Der Eindruck des Voyeurismus, der sich beim Fotografieren mit einem Teleobjektiv häufig einstellt, wird so vermieden. Man fühlt sich als Betrachter vielmehr, als stünde man selbst auf der Straße, mitten im Geschehen.
Die Straßenfotografie, da gibt es kein Drumherumreden, ist eine besonders aggressive Form der Fotografie. Hier ist der Fotograf im direkten Sinne Jäger und Sammler. Denn das ungefragte Ablichten von Menschen auf der Straße ist zumeist nicht nur ein klarer Verstoß gegen die Persönlichkeitsrechte, es ist der Arbeitsweise der Papparazzi gar nicht so unähnlich. In der Straßenfotografie aber geht es nicht um das Ablichten von Prominenten, sondern um ganz normale Menschen im Straßenalltag. Und natürlich geht es auch nicht, wie beim Paparazzi, um einen ganz bestimmten Menschen, vielmehr entscheidet der Zufall darüber, wer zum Gejagten des Straßenfotografen wird. Die fotografierten Personen sind lediglich Stellvertreter der eigentlich gemeinten menschlichen Situation. Hier geht es also niemals um die Figur X oder Y.
Aber Parallelen sind da und die machen den Straßenfotografen zum etwas seriöseren Bruder des schäbig-schmuddeligen Paparazzi. Auf der anderen Seite verdanken wir der Straßenfotografie viele bedeutende Fotos, die unser Bild von der Welt nachhaltig geprägt haben, uns einen unverstellten Blick auf sie erlauben und die, wie z.B. Cartier-Bressons Bild vom Pfützenspringer, Einzug in die Ikonografie der Fotografie gefunden haben.
Auch wenn die Straßenfotografie einem bestimmten Grundmuster folgt, so gibt es doch viele Spielarten. Während Magnum-Fotograf Bruce Gilden seinen Motiven häufig aus unmittelbarer Nähe knallhart mit dem Blitzlicht ins Gesicht leuchtet, bemüht sich Joel Meyerowitz um größeren Abstand zu seinen Protagonisten und bezieht viel mehr städtischen Raum ein. Dabei versucht er, die aggressive Form des ungefragten und direkten Fotografierens durch weiche, fließende Bewegungen und eine passive Körperhaltung zu dämpfen, um den Menschen auf der Straße das Gefühl von Bedrohung und Belästigung zu nehmen. Der Tscheche Martin Kollar ist häufig im Umfeld von gesellschaftlichen Veranstaltungen unterwegs, wo das Fotografieren für die Teilnehmer ohnehin dazu gehört und zumeist nicht als unangenehm empfunden wird. Hier ist er auf der Jagd nach dem Komischen im Alltag. Und dem Schmunzler, den er uns mit jedem seiner Bilder entlocken möchte. Beim Schweden Olaf Lasthein fasziniert die Komplexität der Panoramen mit ihren 140 Grad Bildwinkel, die uns in seinen Fotos lange verweilen lassen, weil es darin so viel zu entdecken gibt. Die Fotos der Amateurfotografin Vivian Maier, im ruhigen Quadrat der Rolleiflex fotografiert, sind einfache und direkte Bilder, ehrlich und ohne jeden Versuch, sich als Fotografin vor die Motive zu schieben.
Saul Leiters ist der Maler unter den Straßenfotografen. Er schafft es ohne die übliche distanzlose Sicht, dem Puls der Stadt eine visuelle Entsprechung zu verleihen. Seine Bilder beruhen zumeist auf Beobachtungen aus der Entfernung . Wenn Saul Leiter Straßenleben fotografiert, dann streichelt er mit Kamera und Objektiv die Welt, wie ein Maler mit dem Pinsel die Leinwand.
Überhaupt sieht man Saul Leiters Fotos, besonders natürlich den Farbfotografien, mit denen er 1948 begann, seine tiefe Verwurzelung in der Malerei an, von der er bis heute nicht lassen kann. Ruhige Farbflächen werden von tiefschwarzen Schatten überlagert, irgendwo im Bildfeld schreit uns die unscharfe Signalfarbe einer Ampel oder Neoreklame an. Seine Farbbilder erinnern an den Expressionismus und sie lassen, wie in der Malerei der Moderne, auch konstruktivistische Ansätze erkennen. Farbflächen und geometrische Formen bilden Hintergrund und Rahmen für Schattenrisse von Köpfen und einsam durchs Bild gehende Menschen. Und immer wieder sind es regennasse Scheiben, hinter denen jemand steht oder geht und die das Bild der Stadt auf zwei Ebenen reduzieren und seine Bilder wie reine Poesie erscheinen lassen. Saul Leiters Straßenfotografie - damit ist er beispiellos in diesem Genre – ist eigentlich Fotografie gewordene Malerei.
Zurzeit lebt etwa die Hälfte der Menschheit in Städten. Tendenz steigend. Das schreit geradezu nach der fotografischen Auseinandersetzung mit der Urbanität. Die Straßenfotografie ist dazu ein adäquates Mittel und vielleicht erklärt das auch deren wachsende Bedeutung, besonders unter jungen Fotografen.
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